Wir waren es nicht mehr gewohnt, in den Himmel zu schauen. Unsere Augen vom Boden, von der Niederwelt zu erheben, sie über die Horizontale hinaus, über die Post – und Antlitze der Mitmenschen, über den Straßenverkehr, die Häuserfronten und die Baumkronen hinweg in den Himmel zu lenken, wurde uns nicht nahegelegt. Fast niemand mehr kennt heute die Schriften und Bücher des österreichischen Autors Gustav Meyrink. Vor mehr als hundert Jahren versuchte er durch seine spannenden und mythologisch-mystischen Romane, eine immer mehr materialistisch sich ausrichtende Welt von der Bodenhaftung zu befreien. Seine Hauptfiguren suchten darin alle Wege zu einer geheimnisvollen Leichtigkeit des Daseins. Die „Bodenstarrer“ sollen zu „Haupterhebern“ werden und in den „Himmel“ blicken.
Zur selben Zeit aber war der pädagogische Mainstream ein anderer. Die Geschichten Heinrich Hoffmanns hatten schon längst das Rennen gemacht. Seit 1847 machten Struwwelpeter & Co eifrig die Runde und sollten ganze hundert Jahre die Kinderseelen deformieren. Unartige und ungehorsame Kinder, die infolge zu Erwachsenen werden, sollten nicht wie ein „Hans-guck-in-die-Luft“ ihr Leben riskieren, indem sie den Boden der Realität geringschätzen. Wir waren nicht dazu erzogen worden, länger in den Himmel zu schauen, denn die Produktion musste weiterlaufen. Der Konsum im nutzbringenden Horizontalen hatte zu dominieren und Effizienz und Ertrag mussten mit dem wirtschaftlichen Wachstum einhergehen. Es war nicht mehr notwendig geworden, sich am Sternenhimmel auszukennen oder eigene Wetterprognosen erstellen zu können. Technische Hilfsmittel und Kommunikationsapparaturen erledigten dies alles nun für uns. Den eigenen Blick von unten nach oben zu erheben, um sich ein eigenständiges Bild zu verschaffen, war nicht mehr gefragt.
Wir wurden von niemandem dazu angehalten, in den Himmel zu starren. Wir seien doch keine Südländer, die faulenzend in ihren Hängematten liegen und dem süßen Nichtstun frönen; denen man noch so oft erklären kann, wie eine funktionierende Wirtschaft auszusehen hat und die mit fremdem Kapital nicht umgehen können. Vergeblich. Sich Fantasiebilder in den Wolkenformationen auszumalen und den Himmel als eine Kinoleinwand für die eigenen Projektionen zu benutzen, hatte eben keinen produktiven Nutzen.
Wir wurden nie dazu angeleitet, unsere Fantasie durch den Himmel und seine Bewegungen zu entfalten, wie dies vielleicht durch die Dichter der Romantik nahegelegt wurde. Diese Anleitung war auch deshalb nicht nötig, weil dies in den letzten Jahrzehnten sowieso nicht mehr ungetrübt möglich gewesen wäre. Machten doch unzählige gerade, zu Wolkenstrichen kondensierte Himmelslinien diesem quasi katathymen Bilderleben einen technologischen Strich durch die Rechnung. Der Himmel war nicht frei von Bodenstarrern. Wenn dann doch einer nach oben schaute, sah und dachte er Menschliches und nicht mehr Ungetrübtes: Wer fliegt da wohin? Ich möchte auch weg von hier. Die Welt ist ein Dorf geworden. Touristen und Luftfracht. Wie können Tonnen von Metall und Plastik so elegant in den Lüften schweben? Welch Umweltverschmutzung! Warum fotografieren Künstler Kondensstreifen und sehen in ihnen Moräne Runen? Soll ich noch fliegen? Werden wir durch geheimes Psychogas systematisch sediert? Zwei Streifen, vier Steifen. Boeing, Airbus und Learjet – wo wird das alles hinführen? Höher als 13 Kilometer nur die Satelliten. Sehr dünne Atmosphäre im Vergleich zur Erdmasse. Wir pumpen Öl aus der Erde und Treibstoff in die Luft! Kapitäne, Stewardessen und Bonusmeilen – eine umspannte Welt von der aus wir, wenn wir hochsehen, uns stolz selbst betrachten. Himmelsschau wurde zu Spiegelschau.
Doch nun hat sich über Nacht alles geändert. Das von mir Beklagte ist nicht mehr, weil Schlimmeres eingetreten ist. Das neue Virus hat alles lahmgelegt. Plötzlich haben wir Zeit wie die Südländer und am Himmel ist kein gerader Wolkenstrich mehr zu sehen. Zuerst haben wir es nicht richtig wahrgenommen. Die ganze Atmosphäre war plötzlich so anders. Es dauerte eine Weile, bis wir wussten, woher diese Stimmung kam, bis wir unsere Häupter zu erheben begannen. So war er schon lange nicht mehr – der Himmel.
Nun ist sie wieder da, die ungestörte Zeit des Himmels. Nichts Menschengemachtes durchschneidet das tiefe Blau, keine geraden Linien kreuzigen die Wolkengebilde. Einfach in die Weite schauen, ungestört und lange. Das wird unserer Seele guttun, vielleicht auch unserer Kurzsichtigkeit. Die Fantasie wird sich neu entwickeln, wenn wir nach oben schauen. Nun haben wir Zeit und freie Sicht. Nutzen wir dieses „Fenster“.
© Mag. Hans-Peter Premur (Hochschulseelsorger an der Universität Klagenfurt und Pfarrer von Krumpendorf am Wörthersee)